Netzwirtschaft
Das ist die Überschrift eines Beitrages des ehemaligen Richters am Bundesverfassungsgericht Udo di Fabio. Der Artikel erschien am 18. September 2014 auf der Seite „Staat und Recht“ der FAZ. Diese Fundstelle und die nichtssagende Überschrift „Netzwirtschaft“ führen vermutlich dazu, dass die meisten FAZ-Leser diesen Beitrag übersehen und di Fabios Argumente zu wenig von anderen Medien aufgegriffen werden. Jedoch müsste sowohl der Name di Fabio als auch der größer gedruckte einleitende Satz hellhörig machen:
Gesetzgeber und Gerichte zwingen uns ins Netz. Konzerne sickern in die Domäne des freiheitlichen Staates ein. Doch das Internet darf uns nicht instrumentalisieren.
Das klingt immer noch reichlich abstrakt. Was es konkret bedeuten kann, erläutert die Fabio am Beispiel der selektiven Vertriebsbindung für hochwertige Kosmetika. Da hat der Europäische Gerichtshof im Jahre 2011 entschieden, dass nach Artikel 101 Abs. 1 AEUV die selektive Vertriebsbindung des französischen Kosmetik-Herstellers Faberge ein Konzept ist, das die „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezweckt oder bewirkt“, wenn es den Handel seiner Produkte über das Internet vertraglich untersagt. Auch wenn der Europäische Gerichtshof es nicht so ausführt und die Richter es auch bestreiten würden, wenn sie darauf angesprochen würden: Mit Wettbewerb ist nur der Wettbewerb über den Preis gemeint und nicht der Qualitätswettbewerb. Um das zu erkennen, ist der Wortlaut des Artikel 101 Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) von Interesse:
Artikel 101
(1) Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken, insbesondere
a) die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- oder Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen;
Ohne es zu sagen, wird die Geschäftstätigkeit deutscher Töchter internationaler Konzerne wie Amazon und Ebay mit „Handel zwischen den Mitgliedsstaaten“ gleichgesetzt.
Di Fabio schreibt weiter:
Das Netz ist für viele geradezu ein Geschenk grenzüberschreitender Marktfreiheit schlechthin. In diesem Urzustand eines transparenten, die Grenzkosten gering haltenden Marktes scheint der Wettbewerb doch seine eigentliche Heimat zu finden. Wer hier nicht hinein will, führt gewiss Böses im Schilde, das heißt, er will seine Preise hoch halten, zum Schaden des Verbrauchers, der längst mit staatlicher Assistenz eine Niedrigpreisgarantie erwartet und sich makroökonomisch dann über Deflation grämt.
Nach di Fabio haben deutsche Gerichte zunächst versucht, für Beschränkungen des Internetvertriebs Verständnis aufzubringen. Jetzt hat sich aber der Kartellsenat des schleswig-holsteinischen Oberlandesgerichtes in das „Fahrwasser“ des EuGH begeben und den Ausschluss des Vertriebs über sogenannte Internetplattformen und Internetmarktplätze als unzulässige Wettbewerbsbeschränkung angesehen. Dabei ging es um Digitalkameras, könnte aber genauso für andere beratungsintensive Produkte gelten. Das bewertet di Fabio so:
Der Kunde frohlockt, denn das Netz macht alles billiger und ist so bequem. ... Und so verschwinden Karstadt und Saturn aus unseren Innenstätten, aber auch ungezählte Haushaltswarengeschäfte, Buchhandlungen und womöglich schon bald der Handel mit Lebensmitteln, während sich die Straßen mit Lieferwagen und vielleicht morgen der Luftraum vom geschäftlichen Gebrumm der Transportdrohnen erfüllt sein wird... Als Gipfel der postmodernen Cleverness gilt es, wenn der üblicherweise als schützenswert apostrophierte Verbraucher sich im Fachgeschäft ein teures Produkt vorführen und erklären lässt, es fürs Ausprobieren gar ausleiht, um es dann für ein paar Euro billiger im Netz zu erwerben. Clevere Kunden, Kartellbehörden und Gerichte üben Schulterschluss und treiben die mittelständische Wirtschaft in ein Netz, das große Akteure ausgelegt haben.
Mit großen Akteuren ist mit Sicherheit auch Amazon gemeint. Da wollen die Beschäftigten gerade wieder streiken, um mindestens so bezahlt zu werden wie ihre Kollegen im Fachhandel. Amazon argumentiert dagegen: Wir sind kein Handels- sondern ein Logistik-Unternehmen mit niedrigeren Mindestlöhnen. Unausgesprochen dabei:
Unsere Mitarbeiter brauchen die Kunden nicht beraten, sie brauchen keine besondere Ausbildung, ihre Arbeit ist weniger wert als die einer Verkäuferin im Fachgeschäft.
Zu den Unterstützern des Internethandels, die di Fabio aufzählt, können auch die Behörden gerechnet werden. Während die „Gewerbeaufsicht“ über den Fachhandels eher zunimmt als abnimmt und das Parken für die Kunden in der Nähe eines Fachgeschäftes immer schwieriger und teurer wird, dürfen die Auslieferungsfahrzeuge des Internethandels in der Regel ungestraft im Park- oder sogar Halteverbot parken. Internethandel ist ohnehin eine Art Etikettenschwindel: Nur die Bestellung erfolgt elektronisch, die Auslieferung ist stark die Mitwelt belastender klassischer Versandhandel.
Es hilft kurzfristig nicht, auf die deutsche und europäische Gerichtsbarkeit zu schimpfen, weil sie die Zerstörung von Fachgeschäften mit ihren Arbeitsplätzen für Angestellte und Inhaber in den deutschen Städten nicht nur nicht verhindert, sondern aktiv fördert. Es ist aber wichtig, die Zusammenhänge darzustellen und in der Öffentlichkeit aufzuklären, dass es am Ende der Verbraucher ist, der diese Arbeitsplätze grob fahrlässig zerstört. Schuld daran ist aber auch der Journalismus der meisten Massenmedien, der den Preiswettbewerb immer in den Himmel gehoben hat, gleichzeitig aber auch Feldzüge gegen zu niedrige Löhne führt. Vielleicht sehen das die Journalisten der Massenmedien in Zukunft auch etwas anders, wenn kostenlosen Informationen im Internet auch ihre Einkommen und Arbeitsplätze gefährden.
Bis heute wird die Aufhebung der früheren Preisbindung der zweiten Hand für die meiste Handelsware als großer Fortschritt gepriesen. Viele Hersteller versuchten daraufhin, durch die selektive Vertriebsbindung ihren Handelspartnern eine ausreichende Handelsspanne zu sichern, mit denen die teure Innenstadt-Standorte und qualifiziertes Personal finanzieren konnten. Jetzt wird jede Form der selektiven Vertriebsbindung mit dem Scheinargument internationaler Wettbewerbsfreiheit bekämpft.
Es ist bezeichnend, dass erst ein deutscher Verfassungsrichter die Hersteller und Händler betroffener Branchen darauf hinweisen muss, welche katastrophalen gesellschaftlichen Auswirkungen es hat, wenn für ein Linsengericht angeblich oder tatsächlich bequemen und billigeren Einkaufs im Internet das „Erstgeburtsrecht“ des persönlich beratenen und betreuten Konsumenten im Fachhandel der Städte aufgegeben wird.
Auszug aus dem MARKTLÜCKE-Themenheft "WERTSCHschätzen!", das demnächst erscheint